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Title
Christian Readings of Aristotle from the Middle Ages to the Renaissance.


Editor(s)
Bianchi, Luca
Series
Studia Artistarum 29
Published
Turnhout 2011: Brepols Publishers
Extent
442 S.
Price
€ 65,00
Reviewed for H-Soz-Kult by
Jan-Hendryk de Boer, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Zu den zweifellos interessantesten Phänomenen der Geschichte des mittelalterlichen Denkens gehört die Aneignung nicht-christlichen philosophischen Gedankenguts durch christliche Denker, die mit der Entstehung der Universität und dem wachsenden Interesse am gesamten Werk des Aristoteles im 13. Jahrhundert in eine neue Phase trat. Indem nun die aristotelische Naturphilosophie und Metaphysik in Gänze bekannt und häufig in einer durch arabische Denker wie Averroes oder den eher neuplatonisch orientierten Avicenna interpretierten Weise rezipiert wurde, war eine Integration des paganen oder arabischen philosophischen Denkens in eine christliche, vielfach vom Augustinismus und spätantiker Aristotelesrezeption (etwa durch Boethius) geprägte Weltsicht allenfalls mit Spannungen möglich, die den Zeitgenossen immer mehr bewusst wurden. Dabei lassen sich ganz schematisch zwei Zugangsweisen zum aristotelischen Denken unterscheiden: Entweder man las Aristoteles durch eine christliche Brille und bemühte sich, zwar nicht unbedingt den Griechen zu einem Christen ehrenhalber zu machen, aber doch zumindest Parallelen zwischen aristotelischen und christlichen Lehren herauszupräparieren. Oder man las den Philosophen gleichsam wie ein Philosophiehistoriker, nämlich unter der Hinsicht, was Aristoteles eigentlich gelehrt habe. Für solche Autoren hatte eine (philosophiehistorisch) richtige Aristotelesdeutung nicht notwendig, von einem christlichen Standpunkt gesehen, wahre Erkenntnisse zu generieren, konkordistische Lesarten lehnten sie ab. In einem auf einem von Luca Bianchi herausgegebenen Sammelband, der auf eine Tagung an der Università del Piemonte Orientale (Vercelli) im Sommer 2009 zurückgeht, wird aus verschiedenen Perspektiven vorrangig die erste der beiden genannten Interpretationsweisen in Mittelalter und Renaissance analysiert.

In einer konzisen Einleitung stellt der Herausgeber nicht nur die einzelnen Beiträge kurz vor, sondern skizziert auch zutreffend die Forschungslage zur christlichen Aristotelesinterpretation. Nach wie vor fehlen systematische, größere Zusammenhänge untersuchende Studien; in der älteren Forschung wurden zumeist einzelne Lehren oder Schriften des Stagiriten herausgegriffen, deren Rezeption punktuell untersucht wurde. Vielfach bewertete man die Texte des Mittelalters und (in geringerem Maße) der Renaissance von einem religiösen oder mitunter auch von einem dezidiert antireligiösen Standpunkt aus, was es gleichermaßen erschwerte, die Eigenlogik der christlichen Aristoteleslektüren zu erkennen. Unerlässlich ist es hierfür, wie im vorliegenden Band gleichermaßen die Rezeption des naturphilosophischen, ethischen, politischen und metaphysischen Denkens des Aristoteles zu analysieren.

Der Reigen der Beiträge beginnt mit der Rezeption der aristotelischen Naturphilosophie: Gianfranco Fioravanti zeigt, wie unter anderem Thomas von Aquin und Dante die gleiche Passage aus „De caelo“ zum Empyreum, der äußersten Himmelssphäre, in ganz unterschiedlicher Weise interpretieren: Während Dante erklärt, Aristoteles habe den Lichthimmel als Ort der Engel gesehen, die nicht die Himmelssphären bewegten, verzichtet Thomas wie schon sein Lehrer Albertus Magnus darauf, das Empyreum in eine christliche Kosmologie zu integrieren. Chiara Crisciano untersucht Roger Bacons Auseinandersetzung mit dem Aristoteles zugeschriebenen „Secretum secretorum“. Für den Franziskaner zeigt sich hier das wahre Wissen des Aristoteles, nämlich ein praktisch-operatives Erfahrungswissen. Mit Hilfe des Topos vom hebräischen Wissen, das den griechischen Philosophen übermittelt worden sei, vermag Bacon durch Offenbarung gewonnene Wissensbestände, die den christlichen Glaubensgrundlagen entsprechen, auch in aristotelischen Schriften auszumachen. Die bei Pseudo-Aristoteles anzutreffende Weisheit erscheint Bacon als Gnadengabe, und ganz konsequent lässt er die Frage offen, ob heidnische Philosophen verdammt seien oder gerettet würden.

Valerie Cordonier rekonstruiert in Vorbereitung einer entsprechenden Edition akribisch die Genese des „Liber de bona fortuna“, einer ihrer Analyse zufolge von Wilhelm von Moerbeke aus den „Magna Moralia“ und dem letzten Kapitel der „Eudemischen Ethik“ zusammengestellten Schrift. Der Übersetzer habe dabei auf ein spezifisches, theologisches Erkenntnisinteresse reagiert, indem er die von Thomas von Aquin im Rahmen der Diskussion der göttlichen Providenz genutzten Passagen beider Schriften zu einer selbständigen Schrift zusammenstellte. Thomas zog, an Albertus Magnus anknüpfend, bestimmte Textstellen heran, um dem aristotelischen unbewegten Beweger eine von der christlichen Lehre geforderte Sorge um jedes einzelne Wesen zuschreiben zu können.

Die nächsten beiden Beiträge befassen sich mit Diskussionen an der Pariser Universität in den letzten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. Dragos Calma schlägt eine teilweise neue Deutung der vieldiskutierten Verurteilung von 1277 vor, die als Ausgangspunkt die Bemerkung im Prolog wählt, es würden Thesen verurteilt, die von Pariser Artes-Studenten quasi dubitabiles im Unterricht behandelt und diskutiert würden. Dubitabilia sind im Begriffsgebrauch der Zeitgenossen diskussionswürdige Thesen. Daraus gewinnt Calma eine betont nüchterne Sicht auf die Verurteilung: Es sei dem Pariser Bischof Tempier wie den beteiligten Theologen nicht darum gegangen, einzelne Artistenmagister zu verurteilen, sondern lediglich darum, die Wissensvermittlung an der Artes-Fakultät zu regulieren. Aus theologischer Sicht irrige Thesen seien in einer Art Florilegium zusammengestellt worden, um zu verhindern, dass sie künftig im Unterricht behandelt würden. Mit der Absicht, die artistische Lehrtätigkeit und Wissensvermittlung zu regulieren, hätten viele andere Universitäten die Irrtumsliste in ihre Statuten übernommen. So sympathisch es ist, die Verurteilung nicht als heroisches Ringen zwischen weltgeschichtlichen Prinzipien wie kirchlicher Unterdrückung und aufklärerischer Wissensfreiheit verstehen zu wollen, schlägt Calmas Zugriff doch zu weit in die andere Richtung aus: Dass zumindest einige Thesen mehr oder weniger direkt aus Werken in Paris wirkender Artisten und Theologen wie Siger von Brabant, Boethius von Dacien oder Thomas von Aquin stammten, blieb den Zeitgenossen nicht verborgen. Entsprechend zielte die Verurteilung nicht nur auf dekontextualisierte Thesen, sondern mittelbar auch auf bestimmte Werke und Autoren, deren Rezeption sie zu unterbinden suchte. Dies muss auch die Ansicht von Papst Johannes XXII. gewesen sein, wenn er 1325 im Rahmen der Kanonisation des Thomas von Aquin die Verurteilung der dessen Lehren betreffenden Thesen aufhob. Obendrein hat etwa Alain de Libera zeigen können, dass die Verurteilung auch ein spezifisches, artistisches Lebensmodell betraf, das aus der antiken Moralphilosophie einen besonderen Rang des Philosophen abzuleiten versuchte.1

Pasquale Porro präsentiert den augustinischen Theologen Heinrich von Gent, ein Mitglied von Tempiers Kommission, als aufmerksamen Leser des Aristoteles. Wenn er 1286 in einem Quodlibet die Frage diskutiert, ob nach den Grundlagen des Aristoteles notwendig anzunehmen sei, dass die menschliche Art ewig bestehe, strebt er keine schlichte Widerlegung an, sondern will zunächst die wirkliche Ansicht des Philosophen herauspräparieren, um dann zu erweisen, dass sie nach dessen eigener Lehre unhaltbar ist. Mittels einer Bemerkung aus dem neunten Buch der „Metaphysik“ glaubt Heinrich, diese These als philosophisch falsch erweisen zu können: Zwar ginge in akzidentieller Ordnung immer ein Individuum dem anderen voraus, doch in wesentlicher Ordnung gehe der Mensch dem Samen als Mittel der Zeugung voraus. Aristoteles zufolge müsse jede wesentliche Ordnung einen Anfang haben – und dies könne nur ein erster, von Gott geschaffener Mensch gewesen sein, der, selbst vergänglich, durch die natürliche Zeugung die menschliche Art konstituierende Reihe der einzelnen Menschen initiiert habe.

Einer sorgfältigen und detaillierten Lektüre werden von Iacopo Costa die „Quaestiones super librum Ethicorum“ des Aegidius von Orléans, ein der einzigen Handschrift angefügtes Supplement und ein Ethikkommentar des sogenannten Erfurter Anonymus unterzogen. Wie zahlreiche andere artistische Ethikkommentare auch rezipieren die nach Costas Rekonstruktion wohl von einer gemeinsamen Vorlage abhängigen Texte in ihren Ausführungen zum menschlichen Willen die thomasischen Erklärungen der „Prima secundae“ – und erweisen so, dass moralphilosophische Debatten an der Pariser Artes-Fakultät nicht losgelöst von thematisch verwandten Diskussionen unter den Theologen waren. Ergänzt wird der Aufsatz um eine Edition der Proömien der beiden Kommentare, zweier inhaltlich korrespondierender Fragen aus der Erfurter Handschrift und dem Supplement sowie um Listen der in den drei Texten diskutierten Quaestiones.

Stefano Simonetta wählt Peter von Auvergne als Beispiel für einen ideologischen Gebrauch der paulinisch-augustinischen Tradition in der Adaption der aristotelischen Politiktheorie. So konnte Peter die „Politik“ pro-monarchisch lesen: Die Darlegungen zu den Vorzügen einer ‚Herrschaft der Vielen‘ wird zum Lob einer ‚Herrschaft des nahezu Vollkommenen‘ umgedeutet. In augustinischer Tradition assoziiert Peter die Volksmenge mit Irrationalität und Unordnung, was ihn in nahezu allen möglichen Fällen die ‚Herrschaft des Einzelnen‘ einer ‚Herrschaft der Vielen‘ vorziehen lässt. Bei Walter Burley und Ptolemäus von Lucca zeigen sich nach Simonetta zwar weiterhin die Wirkungen der christlichen Herrschaftstheorie, doch ringen sich beide zu einer zumindest partiell positiveren Sicht der Menge als Herrschaftsträger durch.

Amos Corbini fragt danach, inwieweit sich Marsilius von Inghen in seinen Aristoteleskommentaren von seinem theologischen Wissen beeinflussen ließ. Marsilius folgte häufig der üblichen Praxis, bestimmte aristotelische Ansichten naturaliter loquendo, der natürlichen Vernunft folgend, den Glauben explizit ausklammernd, zu präsentieren. Relativ systematisch unterschied er dadurch den Geltungsbereich relativer naturphilosophischer Wahrheit von demjenigen der absoluten Glaubenswahrheit. Demgegenüber postuliert jedoch sein Metaphysikkommentar, dass das, was dem Glauben zufolge schlechthin falsch sei, in einem anderen Licht nicht wahr sein könne. Vor allem in einer Frage ist Marsilius nicht bereit, der aristotelischen Lehre Zugeständnisse zu machen: Unter Verwendung des christlichen Dogmas als Interpretationsrichtlinie für die Naturphilosophie erklärt er die These von der Ewigkeit der Welt für schlechthin falsch. Bezüglich der Frage nach dem ontologischen Status der Akzidenzien dagegen nimmt Marsilius weniger Rücksicht auf die Erfordernisse der Transsubstantiationslehre als Johannes Buridan, an den er sich häufig anlehnt. Umgekehrt verhält es sich, wenn er mit Hinweis auf die doppelte Natur Christi die Annahme, es gebe im Individuum mehrere hierarchisch gestufte substantielle Formen, zurückweist, während Buridan seine Erörterung ganz auf die natürliche Ordnung beschränkt. Von einer durchgängigen Neigung, Aristoteles zu christianisieren, kann bei Marsilius also keine Rede sein, ebenso wenig jedoch vom Versuch, Naturphilosophie und Metaphysik durchweg ohne Berücksichtigung des Glaubens zu treiben.

Die beiden letzten Beiträge verlassen das Mittelalter: Pietro B. Rossi nimmt mit Gasparo Contarini und seinem Sekretär Ludovico Beccadelli zwei Gelehrte in den Blick, die die griechischen Aristoteleskommentare und Avicennas Deutungen nicht zum Anlass nehmen, einen säkularen Aristoteles zu entdecken, sondern vielmehr die aristotelische Moralphilosophie in einer dezidiert christlichen Perspektive zur Norm für die eigenen philosophischen Bemühungen machen. Gegen seinen ehemaligen Lehrer Pietro Pomponazzi erklärt Contarini, Aristoteles habe gelehrt, die Unsterblichkeit der menschlichen Seele sei allein durch die Vernunft beweisbar. Beccadelli kommt zum gleichen Schluss. Beide Denker verstehen die aristotelische Ethik als Präambel zur christlichen und können auf diese Weise die antike, griechische Aristotelesrezeption in die Tradition der christlichen Moralphilosophie integrieren. Zusätzlich wertvoll wird Rossis Aufsatz durch eine vollständige Transkription von Beccadellis „De immortalitate animae“, ergänzt um weitere Exzerpte, und zweier Kapitel aus „De pietate Aristotelis“ des Fortunio Liceti.

Den Band beschließend widmet sich Luca Bianchi Cesare Crivellatis Kampf mit den Averroisten. Crivellati, Autor medizinischer, musiktheoretischer und philosophischer Schriften, legte als letzter italienischer Renaissanceautor volkssprachliche Fassungen einiger aristotelischer Schriften vor. Wie seine Vorgänger neigte er zu einer stark christlich gefärbten Aristoteleslektüre, die er mit dem Anspruch begründete, Aristoteles auf die Wahrheit zurückführen zu wollen, statt irrige Thesen zu verteidigen. Sein anderes Ziel, die Lehre des historischen Aristoteles herauszuarbeiten, trat demgegenüber in den Hintergrund. Nicht nur die aristotelische Seelenlehre, sondern auch die Aussagen des Griechen zur Ewigkeit der Welt entschärft Crivellati im christlichen Sinne, indem er mit der christlichen Lehre nicht harmonisierbare Aussagen als bloße Meinungsäußerungen kategorisiert, von denen Aristoteles selbst nicht erwartet hätte, das sie jemand als Wahrheit verteidigte – wie er diesen selbst im „Dialogo fra Platone, e Aristotele circa l’origine, e duratione del Mondo“ beteuern lässt. Gerne kritisiert Crivellati die Lehre, es gebe zwei verschiedene Wahrheiten. Als Protagonisten der solches behauptenden Averroisten wählt er Johannes von Jandun – und bekräftigt somit implizit, in wie hohem Maße die nicht-harmonisierenden Aristotelesdeutungen für die Propagatoren einer christlichen Re-Lektüre des Corpus Aristotelicum anstößig waren und ihre eigenen philosophischen und theologischen Bemühungen befeuerten.

Sicherlich wird ein solcher Sammelband das Fehlen einer umfassenden systematischen Analyse der christlichen Aristoteleslektüren in Mittelalter und Renaissance nicht kompensieren können. Aus der Vielzahl der behandelten Themen resultieren jedoch zahlreiche Anknüpfungspunkte für weitere Forschungen – und auch eine implizite Mahnung, die christliche Rezeption aristotelischer Schriften vom 13. bis zum 17. Jahrhundert nicht mit einer linearen, großen Erzählung erfassen zu wollen. Zusätzlich wäre es wünschenswert, verstärkt in systematischer und komparatistischer Weise die christlichen mit den arabischen Aristotelesaneignungen in Beziehung zu setzen, um auf diese Weise Regelmäßigkeiten und Kontingenzen feststellen zu können.

Anmerkung:
1 Alain de Libera, Denken im Mittelalter, München 2003; vgl. auch David Piché (Hrsg.), La condamnation parisienne de 1277. Texte latin, traduction, introduction et commentaire, Paris 1999.